In Gedenken an Walter Fürst alias Billy 1932–2019

Präsentatio

«Mit der Wirklichkeit am Tisch sitzen - das nenne ich Denken.»

Wir Kleindenker sind unproblematische Leute, überhaupt nicht heikel im Umgang und thematisch endlos genügsam. Was wir denken sagen allenfalls schreiben, ist jammernswert knapp, nie ganz begriffen, wie vom Nebel geprägt oder im Halbschlaf erfahren. Es beschränkt sich aufs sträflich Vernachlässigte, grundsätzlich Prekäre - auf ein Rudimentäres, das kribbelt und krabbelt, nicht wirklich zu Fuss ist und doch unterwegs. Bagatelle nennt der Musiker einen Erstling, der sich der Nichtigkeit hingibt und trotzdem goldrichtig tönt. Bagatellen gibt es auf jedem Lebensgebiet. Bagatellen sind sozusagen der Rohstoff der Schöpfung. Aus dem Nichts wird nicht plötzlich Alles und Jedes. Die Theorie vom Urknall ist, milde gesagt, eine spitzbübische Ausrede, um uns bodengängigen Leuten das beste Argument zu entziehen: dass am Anfang aller Dinge ein winziger, scheinbar nutzloser Schritt oder Tritt war, vielleicht auch ein Stolpern, jedenfalls eine unerträglich triviale, zeitlich kaum wahrnehmbare Bewegung. So und nicht anders muss es gewesen sein, damals. Und so ist er noch heute, der Verursacher des Alltags: das Denken.

Gedanken sind generell ziemlich klein von Statur, im Gegensatz zu Ideen. Gedanken haben was Mickriges Schäbiges elend Alltägliches - niemand weiss, wo und warum sie wirklich entstehen, ob sie Schale sind Spreu Korn oder Kern, das Produkt finsterer Künste oder gar der Vorbote einer noch nicht existierenden Welt. Dies aber wissen wir: Der Intellekt hat enorm viele Abstammungsprobleme - wir Kleindenker nicht. Lappalien sind inbegriffen im Geist aller Zeiten, Kleinkram hatte schon immer Regierungsgewalt. Es gibt keine Grosstat, die sich nicht sofort aufsplittert in kleine und kleinste Ereignisse. Das Mikro, sagen wir, nicht ohne leises Gemecker, ist eine honette Zugabe zum jeweiligen Makro, auch wenn es sich eher spärlich zum Wort meldet. Man kann es auch so sagen: das Grosse und Mächtige ist nur ausnahmsweise verträglich. Kleinigkeiten, hingegen, sind jederzeit tischfertig, eigentlich nie überhitzt zerkocht oder verwürzt. Kleinigkeiten sind Schonkost, jedenfalls nicht lebensbedrohend, im Habitus zwar oft etwas mickrig, doch ordentlich im Geschmack und manierlich im Biss.

Wir Kleindenker sind wieselflink im Erkennen aromatischer Schwächen und kulinarischer Mankos. Kleindenker riechen sehen schmecken spüren radikal alles, was gedanklich vergällt ist oder verfälscht mit ideologischen Zutaten. Wahrheit und Lüge sind gefährliche Lebensbegleiter. Weit besser zu brauchen und erst noch vergnüglich ist die Gabe, Nuancen zu spüren Töne Farben Schattierungen - das Spontane, das wir so schmerzlich im Umgang mit uns selber vermissen. Für den Kleindenker sind Sinn und Zweck die beiden Pfoten des Teufels. Kleindenker kennen keine Prinzipien kein Sakrament keine Dogmen. Es gibt für uns keinen Zustand, der länger währt als dieser eine Moment. Wer klein genug denkt, misstraut allem, was engelhaft wirkt und womöglich im Schatten noch leuchtet. Oder es auf Knall und Fall schliesslich dennoch geschafft hat. Gedanken sind nicht zum Imponieren gemacht - Gedanken sind nur erträglich in der kleinsten Potenz. Wer sich was denkt, denkt entlang seiner Nerven, von drinnen nach draussen oder von draussen herein. Denken ist vom Wesen her materiell, Denken ist vergleichbar mit den Gepflogenheiten unsrer Ernährung, die ja ununterbrochen im Fluss ist, ohne je auszusetzen: bevor wir was essen, isst schon der Hunger, wenn der Hunger pausiert, marschiert die Verdauung, und während du schläfst, wirst du zum Kriegsschauplatz jener unheiligen Vorgänge, die der Gelehrte Stoffwechsel nennt oder Metamorphose.

Die Naturlehre hat uns getäuscht, absichtlich betrogen: Atmung Puls und Verdauung sind uns keineswegs freundlich gesinnt. Augen Ohren und Nase sind lästerlich ordinär, sie sind ein Handicap für Seele und Geist. Das ganz gewöhnliche Essen und Trinken ist ein ewiges Ärgernis für die Würde des Menschen, es erniedrigt uns zum Sklaven des Lebens. Wer «Nahrung» sagt, meint nicht bloss Speise und Trank, sondern ein todernstes Ereignis: wer lebt und gedeiht, hinterlässt hässliche Furchen - die Spuren des Sterbens. Der Humanismus ist eine nette Erfindung, doch im Ernstfall ist er nirgendwo brauchbar - wer und was wären wir wirklich, wenn wir so grotesk anders wären als unsere biologischen Vorfahren? Wer heute, beispielsweise, noch denkt, dass unser erdnaher Partner, das Tier, nicht denken kann nicht sprechen und nicht philosophieren, der hat alles, nur nicht sich selber studiert oder er hat die letzten paar tausend Jahre im Keller verschlafen. Denken ist wahrscheinlich der älteste biologische Vorgang. Wenn wir den menschlichen Geist sachgetreu einschätzen, nämlich als Produzent unseres Stoffwechsels, haben wir den Sprung ins Bewusstsein locker und ganz ohne Anlauf geschafft. Es ist nicht sehr gewagt, den Werkplatz Denken eine Verpflegungsstätte zu nennen, denn biologisch ist so wie so alles mit jedem verwandt.

Nebenbei, doch mit Betonung jeder einzelnen Silbe: Gleichnisse sind grundsätzlich mehr als nur wahr: das erste und zugleich beste aller Gleichnisse sind wir ja selber. Das Nebenbei hat uns elegant zurück begleitet zum Kerngebiet unseres Themas: Dieses Buch ist ein kontemplatives Bankett für gedanklich Unterernährte. Es gibt kein wertvolleres Futter als Gedanken, die scheinbar zufällig aufleuchten und anscheinend ebenso zufällig wieder verschwinden. Licht ist Lebensnahrung, die beste billigste köstlichste. Licht ist ein logistisches Wunder: ein quasi Überweltliches, das uns angenehm aufwühlt, sozusagen wohltuend belästigt, ohne die Allüre der Zweckmässigkeit. Nicht jeder Gedanke ist gedanklich korrekt, nämlich frei vom mosaischen Müssen, frei vom Zwang, Gott zu lobpreisen, opferwütig zu werden, solidarisch zu denken, alles mit jedem zu teilen und hoch über Not und Gebot trotzdem glücklich zu sein. Gedanken können sehr ungerecht sein, hauptsächlich jene, die man uns gesellenhaft aufdrängt. Sie treiben uns in die Klauen des bösen Gewissens, indem sie uns zwingen, alles und jedes dialektisch zu sehn.

Wer sich, von niemandem aufgehetzt, selber was denkt, verabschiedet sich von der dargebotenen Welt und sucht eine neue. Der Weg zur Erkenntnis ist trostlos einsam, grandios simpel und so kurz wie nur möglich. Wo Gedanken geboren werden, gibt's kein Hadern kein Tüfteln kein Zögern, keine Hand, die dich grüsst - niemand empfängt dich oder fragt dich nach irgendwelchen Gelüsten. Erkenntnis ist ungesellig wie sonst nichts in der Welt. Erkenntnis hat einen ziemlich miesen Charakter: sie ist schauderhaft schweigsam, auffallend geistlos und schrecklich allwissend. Erkenntnis ist ein Gespenst. Vollkommen allein hockst du am soeben gezimmerten Tisch, rundherum sitzt die Wirklichkeit, eifrig beschäftigt mit möglichst wenig, am liebsten mit gar nichts. Normalerweise ist es ja so: Die Vernunft frisst, was der Verstand ihr serviert - eine in hohem Grade ungesunde Ernährung. Das Hochgradige schlägt uns auf Magen und Leber, und der Leib schlägt zurück aufs Gemüt - damit hat's sich: wir sind zwar schlauer, aber nicht besser, klüger, aber nicht heller. Wissen macht uns weder wacher noch stärker, sondern bloss müde. Selbstmüde.

Wo der Grossmensch diniert hat, offenbart sich sehr rasch der Level der Wirklichkeit, es muss entrümpelt gesäubert entsorgt werden, es wird plötzlich verdächtig leise und nur noch ungegenständlich geredet, die Botschaft ist knapp, aber ohnmächtig klar: Das war's, Ende! Es nützt dir gar nichts, nachträglich gescheiter zu werden: wo das Wahre und Wichtige namentlich auftreten, sind Donner und Blitz schon im Gebälk, Überschwemmung ist angesagt, es ist nur noch von Strich und Faden die Rede - nämlich vom Stoff, aus dem wir alle gemacht sind: vom Sterben. Wir Kleindenker ernähren uns anders. Wir essen, was die Fachleute meiden und der Hochmensch verschmäht: wir machen uns über die Restposten her. Ein bisschen verärgert, ein bisschen bedrückt, immer und ewig verspätet, doch nicht wirklich verängstigt. Denn uns Kleindenkern droht nicht, wie jenen andern, der Tod - uns droht, allerhöchstens, das Leben. Wer klein genug denkt, hat niemals die Sintflut im Haus, er steht vor sich selber und blickt in die Wildnis. Vorsicht ist angesagt und die sanfte Gebärde des Sammelns. Kleine Gedanken sind ein Massenerzeugnis der eher bitteren Art, kleine Gedanken haben viel zu viel Kraut und verdammt wenig Früchte. Leben davon kann man eigentlich nicht. Denn nicht die Masse macht's - es macht's die Fülle.

Für den Gedankensammler gibt es noch keine waschechte Bezeichnung, aber umso mehr Räume und Örtlichkeiten, die selbst der beste von uns nimmermehr voll kriegt. Denken ist ein Gang ins Zukunftsmuseum - ins Museum der virtuellen Realität. Unsere Zukunft wäre schal und leer, wäre sie nicht erfüllt von den zahllosen Spuren unserer Kleinsüchtigkeit. Zukunft ist eine Tanksäule. Dort kriegst du, was den Grossen und Wuchtigen schon immer gefehlt hat: den Respekt vor dir selber. Dieses Buch ist prallvoll bestückt mit kleinen und kleinsten, kaum fassbaren Gedanken, die sich, wen wundert's, mit der Endlosigkeit des Anfangs beschäftigen. Was tut's. Ihr habt lange genug von Lesefrüchten gelebt - versucht's mal mit Samen. Doch vergesst nicht: Samen sind Rohmaterial, man muss sie nach Art des Hauses verarbeiten, das Naturhafte bewahrend, also möglichst nah an der Quelle und mit der Urkraft des Menschen: mit dem Sinn für Verwandlung. Die besten Köche sind Umwandlungskünstler. Aus Einfalt wird Vielfalt, aus Schlichtheit Genuss. Simplizität ist eine unerschöpfliche Quelle der Gastfreundlichkeit, und das Gleiche gilt für die schwierigste Variante der Lebensgestaltung: unser Denken.

Weisheit ist Verzicht auf gedankliches Fastfood. Fixfertig ist nichts in der Welt, am wenigsten in der Philosophie: Vergiss ein für allemal dieses lebensverachtende Fertiggericht: die Idee - sie hat uns den Geschmack viel zu vieler Epochen verdorben. Die Idee ist das Wesen mit der höchsten Zuschauerquote. Sie ist das Wunderkind der Weltgeschichte, nie wirklich erwachsen geworden aber tausendmal heilig gesprochen, weil sie so unschuldig lächelt und allzeit bereit ist zu allem. An Ideen lässt sich wunderbar glauben - verzückt stehst du im Panorama der Allgültigkeit und lachst in dein Fäustchen. Denken hingegen musst du allein, und du bist in einer keineswegs charmanten Umgebung. Denken ist Fronarbeit. Wer denkt, ist im Dienst - im Dienst der Zerstörung und ihres Auftraggebers, dem Meister der Meister: dem Ursprung. Denken ist ein uraltes Geschäftsmodell, das einzige, das keine Probleme hat mit dem Begriff Horizont und mit dem Ablauf der Zeiten. Im Denken ist alles Mögliche jederzeit möglich, es wird dich zunächst ein bisschen verunsichern bedrängen und einschüchtern, gnadenlos aber gerecht, wie alles, was einmalig ist und ausserhalb der handelbaren Begriffe. Doch dann tut es, woran es uns Menschen grundsätzlich mangelt: es sättigt.

Erinnere dich an das tüchtigste Instrument, das jemals erfunden wurde: an das Kleinhirn. Dort wird geschuftet, dass der Geist sich im Grabe umdreht, dort und nur dort treffen sich sämtliche Stränge des Lebens. Dort und nirgendwo sonst wird dein Aroma gemacht, dort wird deine Verfassung geschrieben, dort wirst du mit dem Rüstzeug bestückt, um der Welt eins zu eins zu begegnen: mit der Gabe des Denkens.

«Im Reich des Geistes fehlt mir die Küche.»